EGMR, Lambert et al. v. Frankreich


Zusammenfassung des Falls

Sachverhalt

Vincent Lambert (geboren am 20. September 1976) erlitt am 29. September 2008 schwere Kopfverletzungen bei einem Verkehrsunfall. Er befindet sich in einem chronischen vegetativen Zustand ohne die Möglichkeit, bewusste Kontakte mit seiner Umwelt aufzubauen. Die Prognose in Hinblick auf seine kognitive Störung ist schlecht: Es ist davon auszugehen, dass die Hirnschädigung irreversibel ist

und Vincent Lambert kein funktionales Rehabilitationspotenzial aufweist.

Vincent Lambert wird in einer auf die Betreuung von Menschen im vegetativen Zustand spezialisierten Abteilung betreut und über eine PEG-Sonde mit Nahrung und Flüssigkeit versorgt.

Entscheidungsprozess zur Beendigung der lebenserhaltenden Maßnahmen in Frankreich

Am 10. April 2013 wurde vom behandelnden Arzt die Entscheidung getroffen, die enterale Sondenernährung zu beenden und die Versorgung mit Flüssigkeit zu reduzieren. Dieser Entscheidung ging ein Prozess voraus, wie ihn das Gesetz vom 22. April 2005 über Rechte der Patienten und über Fragestellungen am Lebensende („Leonettis Gesetz“) vorsieht.
Ein Teil der Familie von Vincent Lambert (seine Eltern und zwei seiner Halbgeschwister) legten beim zuständigen Verwaltungsgericht Beschwerde gegen die Entscheidung des Arztes ein und bekamen Recht. Die Entscheidung habe die Wünsche der Beschwerde-führenden Familienmitglieder nicht ausreichend berücksichtigt, so das Gericht.
Der behandelnde Arzt initiierte daraufhin im September 2013 einen neuerlichen Prozess gemäß Leonettis Gesetz. Diesmal band er zusätzlich externe ärztliche Expertise und alle Familienmitglieder verstärkt ein. Auf Basis dieser Konsultationen entschied der behandelnde Arzt am 11. Jänner 2014, die lebenserhaltende Versorgung von Vincent Lambert zu beenden.
Gegen diese Entscheidung legte ein Teil der Familie neuerlich Beschwerde beim Verwaltungsgericht ein.  Das Verwaltungsgericht befand am 16. Jänner 2014, dass der mutmaßliche Patientenwille von Vincent Lambert nicht korrekt überprüft worden und daher die Entscheidung zur Beendigung der lebenserhaltenden Maßnahmen nicht gerechtfertigt sei.
Der andere Teil der Familie von Vincent Lambert (v.a. seine Ehefrau) und das betreuende Krankenhaus legten daraufhin Beschwerde beim Conseil d’État ein. Dieser gab umfangreiche Gutachten in Auftrag. Auf deren Basis und nach Anhörungen entschied der Conseil d’État am 24. Juni 2014, dass der Entscheidungsfindungsprozess, wie er im vorliegenden Fall praktiziert wurde, in Einklang mit den Anforderungen aus Leonttis Gesetz stehe und dieses wiederum in Einklang mit Art. 2 und 8 EMRK stehe. Der Conseil d’État hielt zu den inhaltlichen Argumenten fest, dass der bloße Umstand, wonach sich eine Person in einem irreversiblen Zustand der Bewusstlosigkeit befindet, für sich allein noch nicht einer Situation gleichkäme, in der die Fortsetzung der Behandlung eine unvernünftige Hartnäckigkeit wäre. Außerdem könne aus dem Fehlen eines konkreten Patientenwillens nicht automatisch geschlussfolgert werden, dass die betroffene Person mit einer Fortsetzung der lebenserhaltenden Maßnahmen in einem solchen Zustand nicht einverstanden wäre.
Gegen die Entscheidung des Conseil d’État legte ein Teil der Familie von Vincent Lambert am 23. Juni 2014 Beschwerde beim EGMR ein.

Das Verfahren vor dem EGMR

Der EGMR entschied am 24. Juni 2014 zunächst, dass die Implementierung der Entscheidung des Conseil d’État vorübergehend aufgeschoben werden solle, damit das Verfahren vor dem EGMR geprüft werden könne. Am 4. November 2014 entschied der EGMR, den Fall sogleich vor der Großen Kammer zu verhandeln. Am 7. Jänner 2015 fand eine öffentliche Anhörung zum Fall statt. Die Große Kammer des EGMR kam am 5. Juni 2015 schließlich zu einem Urteil.
Der EGMR befand mit einer Mehrheit von 12 zu 5 Stimmen, dass die Regelungen, die Frankreich insbesondere in „Leonettis Gesetz“ zur Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen vorsieht, kein Verstoß gegen Art. 2 EMRK darstellen. Begründet wurde diese Entscheidung insbesondere durch folgende Überlegungen:

  • In den Mitgliedstaaten des Europarats herrscht kein Konsens hinsichtlich der genauen Voraussetzungen und Kriterien für die rechtmäßige Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen. Daher kommt den Mitgliedstaaten in dieser Frage ein Ermessensspielraum für die Regelung zu. Frank-reich hat die Frage der Beendigung von lebenserhaltenden Maßnahmen insbesondere durch das Gesetz vom 22. April 2005 („Leonettis Gesetz“) geregelt.
  • Konkretisierungen für die Verpflichtungen, die sich aus der EMRK zu dieser Frage ergeben, finden sich u.a. in der „Oviedo Konvention über Menschenrecht und Biomedizin“ sowie im „Leitfaden zum Prozess der Entscheidungsfindung zur medizinischen Behandlung am Lebensende“.
  • Sowohl die gesetzlichen Regelungen in Frankreich als auch deren Exekution im Fall von Vincent Lambert sind klar und ausgewogen genug, um den Anforderungen, die sich aus der EMRK und ihren Konkretisierungen ergeben, zu genügen.

Kommentar vor dem Hintergrund des österreichischen Kontexts

Der Fall Lambert kann zum einen als rechtlicher Schlichtungsversuch eines tiefen ethischen Familiendissenses verstanden werden, dem das Recht angesichts der persönlichen Schicksale der Beteiligten immer nur partiell gerecht werden kann. Zu diesen Hintergründen könnten nur Vermutungen angestellt werden, was für eine sachliche rechtsethische Analyse nicht angebracht erscheint.


Der Fall Lambert führt zum anderen vor Augen, welche rechtsethischen Bewältigungsmechanismen es für klinische Entscheidungen am Lebensende, insbesondere solche über lebenserhaltende Behandlungsmaßnahmen, gibt und inwieweit diese mit substanziellen und prozeduralen Normen europäischer Grundrechte konform gehen.


Die in der internationalen medizinethischen und rechtsethischen Diskussion maßgeblichen Bezugspunkte für Behandlungsentscheidungen – auch am Lebensende – sind einerseits die Indikation und andererseits der Patientenwille [2]. Demnach benötigt eine medizinische Behandlung zunächst eine Indikation, d.h. eine auf naturwissenschaftlicher Basis erstellte Beurteilung über Nutzen und Schaden bzw. Risiko und Belastungen einer Behandlung in Hinblick auf ein definiertes Therapieziel. Wo eine Behandlung indiziert ist, dort soll sie einem Patienten oder seinen rechtlichen Stellvertretern empfohlen werden. Wo hingegen die Indikation für eine Behandlung nicht (mehr) gegeben ist, d.h. wo anzunehmen ist, dass sie in Hinblick auf ein Therapieziel unwirksam oder bezüglich ihres Nutzen-Schadens-Profils unverhältnismäßig ist, dort ist auf die Behandlung zu verzichten bzw. ist sie zu begrenzen oder zu beenden. Der (auch mutmaßliche) Patientenwille ist sowohl in die Therapiezielfindung als auch in die Indikationsstellung insofern einzubeziehen, als die Wertigkeit und Verhältnismäßigkeit der zur Diskussion stehenden Ziele und Behandlungen letztlich auch von der Beurteilung des Patienten abhängen [3]. Aus diesem Grund wird heute in der Medizinethik auch eher von einer gemeinsamen Entscheidungsfindung (shared decision-making) als von einer (bloßen) Einwilligung nach Aufklärung (informed consent) gesprochen [4].


Im Fall Lambert wurde die Entscheidungsfindung über das weitere Vorgehen von diesen beiden Bezugspunkten, Indikation und Patientenwille, geleitet. Die Indikationsstellung für die Versorgung eines Patienten mit Apallischem Syndrom (PVS-Patient) mit Nahrung und Flüssigkeit über eine PEG-Sonde ist freilich eine der schwierigsten Fragestellungen in der Medizinethik, auf die an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden kann [5]. Bei fragwürdiger Indikation, wie man sie im Fall Lambert offenbar gesehen hat, spielt der Patientenwille eine wichtige Rolle: Denn es ist der betroffene Patient selbst, der den Ausschlag dafür gibt, inwieweit eine relativ indizierte Behandlung noch verhältnismäßig ist. Wenn es klare Äußerungen oder genügend substantiierte Anhaltspunkte dafür gibt, dass der Patient eine bestimmte lebenserhaltende Behandlung – auch eine Versorgung mit Nahrung und Flüssigkeit über eine Sonde – nicht will, dann ist diese Behandlung zu unterlassen bzw. zu beenden. Fehlen hingegen solche Anhaltspunkte, so muss bei relativer Indikation im Zweifelsfall davon ausgegangen werden, dass der Patient mit einer grundsätzlich nicht unwirksamen und nicht völlig unverhältnismäßigen Behandlung zur Erhaltung seines Lebens einverstanden wäre [6].


Das „Leben“, um das es sich bei der Lebenserhaltung handelt, ist für die Rechtsordnung nicht näherhin qualitativ oder quantitativ differenziert: Demnach macht es grundsätzlich keinen Unterschied, wenn ein Patient irreversibel sein Bewusstsein verloren hat oder hochbetagt ist – der rechtliche Schutz des Lebens gemäß Art. 2 EMRK gebührt ungeteilt.


In der Praxis lässt sich vor diesem Hintergrund oftmals folgendes Vorgehen beobachten: Wenn nicht klar hervorgeht, dass ein PVS-Patient eine lebenserhaltende Maßnahme (z.B. eine PEG-Sonde) abgelehnt hätte, wird diese Behandlung durchgeführt. Wenn in der Folge aber zum Apallischen Syndrom weitere Erkrankungen hinzutreten (z.B. ein Organversagen), dann wird diese hinzutretende Erkrankung nicht kurativ behandelt, auch wenn damit zu rechnen ist, dass sie letal verläuft. Dieses Vorgehen wird in der internationalen medizinethischen Literatur [7] als „Mittelweg“ zwischen undifferenzierter Prolongation des Apallischen Syndroms durch Maximaltherapie und radikalem Behandlungsverzicht angesehen und findet in der österreichischen Rechtswirklichkeit eine weitgehende Sozialadäquanz.


Woran es in Österreich hingegen mangelt, sind näher bestimmte, rechtlich maßgebliche Rahmenbedingungen, um diese Sozialadäquanz in Fragen des Verzichts auf bzw. Beendigung von lebenserhaltenden Maßnahmen herzustellen. Im Fall Lambert brachte der EGMR deutlich zum Ausdruck, dass die französische Regelung, wie sie durch „Leonettis Gesetz“ etabliert wurde, den substanziellen und prozeduralen Garantien der EMRK entspricht. Die Regelungen von „Leonettis Gesetz“ sehen einerseits ein Verfahren für die Ermittlung und Einbindung des (mutmaßlichen) Patientenwillens vor. Andererseits finden sich auch Anknüpfungspunkte für eine einseitige Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen bei Unwirksamkeit, Unverhältnismäßigkeit und bloß künstlicher Lebenserhaltung. Diese Begriffe mögen recht unbestimmt sein, sie werden durch die im Gesetz vorgesehene gemeinsame Entscheidungsfindung aber auf vernünftige Weise prozessiert. Aus ethischer Perspektive ist dies wohl das bestmögliche Vorgehen, das man in diesen Situationen erreichen kann.


Mittlerweile gibt es in dem vom EGMR herangezogenen „Leitfaden zum Prozess der Entscheidungsfindung zur medizinischen Behandlung am Lebensende“[8]  schon relativ klare Standards und Orientierungspunkte, die auf Basis der in den letzten Jahrzehnten gesammelten medizinethischen Erfahrung erstellt wurden. Dazu zählt nicht zuletzt der Aufbau einer qualifizierten, institutionalisierten klinischen Ethikberatung, welche ein Garant für die Einhaltung der rechtsethisch begründeten Standards sein sollte [9]. In Österreich hat sich zuletzt die Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt für die Etablierung solcher Standards auch in Österreich ausgesprochen [10].


Zusammenfassend sollte der Fall Lambert daher nicht nur als Auseinandersetzung um die inhaltliche Richtigkeit einer klinischen Entscheidung angesehen werden, sondern als wichtige Beschäftigung mit der rechtsethischen Prozessierung klinischer Entscheidungsfindung.

Referenzen

[1] EGMR (Große Kammer) 5.6.2015, Lambert et al. v. Frankreich, Appl. 46043/14.

[2] Janssens U, Burchardi H, Duttge G, Erchinger R, Gretenkort P, Mohr M, Nauck F, Rothärmel S, Salomon F, Schmucker P, Simon A, Stopfkuchen H, Valentin A, Weiler N, Neitzke G. Therapiezieländerung und Therapiebegrenzung in der Intensivmedizin: Positionspapier der Sektion Ethik der DIVI. MedR. 2012 Oct;30(10):647-650. DOI 10.1007/s00350-012-3247-6.

[3] Lipp V, Brauer D. Behandlungsbegrenzung und „Futility“ aus rechtlicher Sicht. Z Palliativmed. 2013;14(3):121-126.

[4] Wallner J. Organisation medizinischer Entscheidungen am Lebensende. Intensivmed Notfallmed. 2010 Feb;47(1):49-54. DOI 10.1007/s00390-009-0139-8.

[5] Jox RJ, Kuehlmeyer K, Marckmann G, Racine E, editors. Vegetative State: A Paradigmatic Problem of Modern Societies: Medical, ethical, legal and social perspectives on chronic disorders of consciousness. Zürich: Lit Verlag; 2012.

[6] OGH 7.7.2008, SZ 2008/2094, 6 Ob 286/07p. Behandlungsabbruch. EF-Z 2008/141 (Jud), RdM 2008/119, Zak 2008/571 (Kletecka), iFamZ 2008/178, JBl 2009, 100 (Bernat), JBl 2009, 129 (Schütz).

[7] Morgan CL, Varas GM, Pedroza C, Almoosa KF. Defining the Practice of "No Escalation of Care" in the ICU. Crit Care Med. 2014 Feb;42(2):357-361. DOI 10.1097/CCM.0b013e3182a276c9.

[8] Council of Europe. Leitfaden zum Prozess der Entscheidungsfindung zur medizinischen Behandlung am Lebensende.  Strasbourg: Council of Europe; 2014 [updated 2014 May 5; cited 2014 May 5]. Available from: http://www.coe.int/t/dg3/healthbioethic/conferences_and_symposia/FDV%20Guide%20Web%20deutsch.pdf.

[9] Jox RJ. Sterben lassen: Über Entscheidungen am Ende des Lebens. Hamburg: Edition Körber Stiftung; 2011.

[10] Bioethikkommission. Sterben in Würde: Empfehlungen zur Begleitung und Betreuung von Menschen am Lebensende und damit verbundenen Fragestellungen. Stellungnahme der Bioethikkommission.  Wien: Bundeskanzleramt; 2015 [updated 2015 Feb 9; cited 2015 Mar 13]. Available from: http://www.bundeskanzleramt.at/DocView.axd?CobId=58509.