Der Nocebo-Effekt


„Wer sich Sorgen macht, gibt seinen Sorgen Macht.“ (A. Tenzer)

Der Nocebo-Effekt kann als das Spiegelphänomen zum bekannten Placebo-Effekt angesehen werden: Beim Placebo kommt es zu einem positiven Effekt auf den Krankheitsverlauf, nachdem eine rein naturwissenschaftlich betrachtet eigentlich unwirksam bleiben müssende Intervention (z.B. die Gabe einer Tablette) gesetzt wurde. Der Nocebo-Effekt hingegen beschreibt das Phänomen, dass die Erwartung negativer Folgen diese auch häufiger oder verstärkt eintreten lassen. Viele Menschen kennen dieses Phänomen, wenn sie die Packungsbeilage von Medikamenten durchlesen und sie schon beim bloßen Blick auf mögliche unerwünschte Nebenwirkungen diese regelrecht spüren. In der Tat konnte der Nocebo-Effekt bereits in einigen Studien nachgewiesen werden.[1]

Ein Aufklärungsproblem zwischen Selbstbestimmung und Nichtschaden

Wenn die ausführliche Auseinandersetzung mit möglichen Risiken und Nebenwirkungen diese vermehrt oder verstärkt auftreten lässt, dann ist dies ein Problem für die medizinische Aufklärung, im Speziellen für die Risikoaufklärung. Hier kommt es nämlich zu einem ethischen Konflikt:[2]

 

Auf der einen Seite gebietet es der Respekt vor der Selbstbestimmung eines Patienten, ihn darüber aufzuklären, welches Nutzen- und Risikopotenzial denkbare Behandlungsmöglichkeiten haben. Die Information über Risiken und Belastungen, die auch eine lege artis durchgeführte Behandlung mit sich bringt, ist im Konzept des Informed Consent notwendig, damit der Patient selbst entscheiden kann, ob er diese Risiken auf sich nimmt.

 

Auf der anderen Seite gebietet es aber das Nichtschadensprinzip, dem Patienten durch das medizinische Handeln nicht unverhältnismäßigen Belastungen auszusetzen, wenn diese vermeidbar wären. Beim Nocebo-Effekt könnte man nun dem Nichtschadensprinzip einfach damit gerecht werden, indem man Risiken und Belastungen verschweigt. Da jedoch nicht von vornherein gesagt werden kann, bei welchem Patienten negative Folgen aufgrund des Nocebo-Effekts eintreten und bei welchem Patienten sie eine naturwissenschaftlich-kausale Ursache haben, würde man damit etliche Patienten um ihre Chance bringen, mit dem in der Aufklärung vermittelten Nutzen-Risiko-Profil einer Behandlung eine informierte Entscheidung zu treffen.

Verringerung des Nocebo-Effekts durch Kontextualisierung

In der ethischen und rechtlichen Diskussion wird die Lösung für den Nocebo-Effekt nicht darin gesehen, Informationen über Risiken und Nebenwirkungen einfach zu verschweigen. Vielmehr geht es darum, diese Informationen zu „kontextualisieren“.[3] Dazu muss erstens auf die konkreten Begleitumstände des Falls Bezug genommen werden. So gesteht das Recht hinsichtlich der Risikoaufklärung bei dringenden, wenn auch nicht unverzüglich erforderlichen Behandlungen folgenden Beurteilungsspielraum zu:[4] Zu fragen ist nach der Persönlichkeitsstruktur des Patienten (z.B. Ängstlichkeit). Angesichts dieser Persönlichkeitsstruktur ist eine Abwägung durchzuführen, ob eine (zu) umfangreiche Aufklärung über die Risiken und Nebenwirkungen einer Behandlung den Patienten so verunsichern könnte, dass er die Behandlung nicht durchführen lässt. Der Risikoaufklärung hat umso weniger umfassend zu sein, je notwendiger und dringender der Eingriff für die Gesundheit des Patienten ist. Ein anderer Kontext wäre die Risikoaufklärung für eine elektive Behandlung. Hier gesteht das Recht angesichts der zur Verfügung stehenden Zeit vor der Behandlung weniger Ausnahmen zu. So ist auch eine ängstliche, aber einsichts- und urteilsfähige Person umfassend über das Nutzen-Risiko-Profil einer Behandlung aufzuklären.[5]

 

Der zweite wesentliche Ansatzpunkt für die Kontextualisierung der Risikoaufklärung wird darin gesehen, den zu besprechenden Risiken und Nebenwirkungen eine Bedeutung zu geben, d.h. sie zu bewerten. Dahinter steht die Überlegung, dass ein Risiko (z.B. erektile Dysfunktion bei Blutdrucksenkern) immer in Relation zu den Lebenskontexten des Patienten steht. Die Einbeziehung dieser Kontexte in den Informed Consent ist ein Kennzeichen für die gemeinsame Entscheidungsfindung (shared decision-making) zwischen Arzt und Patient. Um den Risiken und Nebenwirkung eine Bedeutung geben zu können, ist freilich eine gewisse professionelle Erfahrung notwendig, ansonsten wird die Risikoaufklärung zur formalen Vermittlung von Daten. Patienten können sich zu Recht erwarten, dass der medizinische Profi ihnen vermittelt, welche Risiken und Nebenwirkungen vor dem Hintergrund ihres Lebenskontexts besonders relevant sind und welche man nicht überbewerten darf.

Nicht ob, sondern wie

Insgesamt geht es somit im Konflikt zwischen den ethischen Prinzipien auf Selbstbestimmung und Nichtschaden im Zusammenhang mit der Risikoaufklärung darum, wie die Informationen über mögliche Risiken und Nebenwirkungen vermittelt werden, um den Nocebo-Effekt zu vermeiden.

Referenzen

[1] Barsky AJ et al. Nonspecific medication side effects and the nocebo phenomenon. JAMA. 2002;287(5):622–7. Silvestri AP et al. Report of erectile dysfunction after therapy with beta-blockers is related to patient knowledge of side effects and is reversed by placebo. Eur Heart J. 2003;24(21):1928–32. Stern RH. Nocebo responses to antihypertensive medications. J Clin Hypertension. 2008;10(9):723–5. Nestoriuc YE et al. Prediction of nonspecific side effects in rheumatoid arthritis patients by beliefs about medicines. Arthritis Care Res. 2010;62(6):791–9.

[2] Cohen S. The nocebo effect of informed consent. Bioethics. 2014;28(3):147–54.

[3] Wells RE, Kaptchuk TJ. To tell the truth, the whole truth, may do patients harm: The problem of the nocebo effect for informed consent. Am J Bioeth. 2012;12(3):22–9.

[4] OGH 23.6.1982, SZ 55/114, 3 Ob 545/82.

[5] OGH 17.1.2001, 6 Ob 318/00h.