Familie kämpft um Medikament für Kind mit Morbus Hunter


Die Krankheit

Jack Fowler ist ein 6-jähriger kanadischer Bub, der mit Morbus Hunter (Mukopolysaccharidose Typ II) auf die Welt kam.[1] Bei diesem Syndrom handelt es sich um eine vererbte Stoffwechselerkrankung, für die es ursächlich keine Therapie gibt und die je nach Ausprägung zu einer üblichen Lebenserwartung von 10 bis 20 Jahren führt.

Test eines neuen Präparats

Die Eltern von Jack setzen ihre Hoffnung auf das neue Präparat SHP-609, welches das Fortschreiten der Krankheit verlangsamen oder gar stoppen soll. Das Problem ist, dass sich SHP-609 noch in der Testphase (II/III) befindet. In Phase-II-Studien sollen erste Hinweise auf die Wirksamkeit einer neuen Substanz bei Patienten erlangt werden. Phase-III-Studien dienen dem Wirksamkeitsnachweis einer neuen Behandlung und sind die Basis des Zulassungsantrags für das Medikament bei den Behörden.[2]

 

Jacks Eltern haben die Pharmafirma, welche SHP-609 entwickelt, darum ersucht, Jack in die Studien aufzunehmen. Die Firma hat eine Aufnahme Jacks in der derzeitigen Entwicklungsphase des Medikaments abgelehnt.[1] Sie argumentiert damit, dass zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Behandlung mit SHP-609 Jacks restliche Lebenszeit schneller verkürze als ohne eine solche Behandlung. Ob ein Therapieversuch am Ende einer künftigen Phase-III-Studie möglich sei, ließ die Firma offen. Kritiker der Verweigerung werfen der Firma „unmoralisches Verhalten“ vor, weil sie sich zu große Sorgen um ein medienwirksames Versagen des Medikaments bei Jack mache. Die Firma kontert, dass – wie auch immer ein Therapieversuch bei Jack ausgehen würde – ein solcher Einzelfall die wissenschaftlich kontrollierte Entwicklung des Medikaments in Gefahr bringen könnte.[1]

Compassionate Use und Named Patient Use

Jacks Eltern haben bei der Zulassungsbehörde überdies eine sogenannte „Compassionate Use“ Genehmigung beantragt. Diese Möglichkeit besteht auch im österreichischen (europäischen) Raum (vgl. § 8a AMG).[3] Ein solches Compassionate Use Programm ist für eine definierte Patientengruppe (z.B. Morbus Hunter Patienten) festzulegen, die an einer chronischen, schweren oder lebensbedrohenden Erkrankung leidet, welche mit einem zugelassenen und verfügbaren Medikament nicht zufriedenstellend behandelt werden kann. Für Jack steht eine solche Compassionate Use Genehmigung aus. Auf Basis der in Österreich geltenden Voraussetzungen ist auch fraglich, ob eine solche Genehmigung erteilt werden könnte. Denn u.a. muss die Sicherheit und Wirksamkeit des Medikaments nachgewiesen sein, was bei SHP-609 offenbar noch aussteht.

 

Im österreichischen Arzneimittelrecht hätte darüber hinaus jeder zur selbstständigen Berufsausübung berechtigter Arzt das Recht, das noch nicht zugelassene Medikament mit Zustimmung des Patienten oder seiner Stellvertreter in einem individuellen Therapieversuch („Named Patient Use“) einzusetzen (vgl. § 8 Abs. 1 Z. 2 AMG).[3] Dazu muss freilich der Hersteller bzw. Entwickler des Medikaments dieses zur Verfügung stellen, was im Fall von SHP-609 nicht der Fall sein dürfte.

Ethische Analyse: Sorge und Gerechtigkeit

In Jacks Fall werden die unterschiedlichen Ansätze von Gerechtigkeits- und Sorge-Perspektive der Ethik erkennbar.[4] Rechtfertigt die Hoffnung von Jacks Eltern, die Krankheit mit SHP-609 vielleicht verlangsamen oder stoppen zu können, das Risiko, dass die Behandlung Jacks Leben weiter verkürzt und ein solcher (medial begleiteter) „adverse event“ unter Umständen zur Einstellung der Forschung führt? Die Sorge-Perspektive der Ethik würde sagen: Ja, denn die Beziehung zwischen Eltern und Kind schließt ein Kümmern ein, das weit über vernünftige (d.h. verallgemeinerungsfähige) Argumente hinausgeht. Persönlich ist es verständlich, dass sich Jacks Eltern an jeden wissenschaftlich noch so unrealistischen „Strohhalm“ klammern, um das Leben ihres Kindes zu retten. Die mögliche Lebensverkürzung, die durch ein noch nicht auf seine Sicherheit und Wirksamkeit hin erprobtes Medikament eintreten kann, mag man im individuellen Fall von Jack nach dem Prinzip „alles oder nichts“ vor diesem Hintergrund in Kauf nehmen.

 

Die Gerechtigkeits-Perspektive der Ethik würde hingegen zu bedenken geben, dass die Entscheidung im Fall von Jack auch die Interessen anderer Betroffener zu berücksichtigen habe. Der Entwickler von SHP-609 und die staatlichen Behörden müssen ihre Herangehensweise an die Sache jedenfalls unter dem Blickwinkel der Verallgemeinerung und Fairness wählen, da sie – im Gegensatz zu Jacks Eltern – nicht nur Jack verpflichtet sind.

 

Konzepte wie „Compassionate Use“ oder „Named Patient Use“ versuchen bereits, eine Brücke zwischen Sorge- und Gerechtigkeits-Perspektive zu schlagen. Auf welcher Seite der Brücke man letztlich bei Jack Fowler landet, hängt von den näheren Umständen des Falls ab, welche aus den Medienberichten nicht ausreichend hervorgehen. In diesem Zusammenhang ist die Sorge-motivierte Öffentlichkeitskampagne seiner Eltern verständlich, könnte aber Pharmafirma und Behörden auch in ihrer Gerechtigkeits-orientierten Zurückhaltung verfestigen und damit einer Billigkeitslösung unzugänglich machen.

Referenzen

[1] Thomas M. Family fights to get drug for dying boy. Chicago Sun-Times. http://www.suntimes.com/news/metro/25304460-418/family-fights-to-get-drug-for-dying-6-year-old-son.html (15.2.2014).

[2] Schumacher M, Schulgen G. Methodik klinischer Studien: Methodische Grundlegungen der Planung, Durchführung und Auswertung. Berlin: Springer; 2002.

[3] Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen. Compassionate Use. http://www.basg.gv.at/arzneimittel/faq/klinische-pruefung/compassionate-use/ (20.10.2010).

[4] Conradi E. Take Care: Grundlagen einer Ethik der Achtsamkeit. Frankfurt/Main: Campus; 2001