Chronisch kritisch krank: „Lazarus trifft Darwin“


Die Bürden des medizinischen Erfolgs

Durch die Möglichkeiten der modernen (Intensiv-)Medizin können heute zahlreiche Menschen am Leben erhalten werden, die noch vor wenigen Jahren unmittelbar an ihren schweren Erkrankungen verstorben wären. Das Überleben einer akuten kritischen Krankheit ist in diesen Fällen aber oftmals damit verbunden, dass die Patienten danach dauerhafte Funktionseinschränkungen, Organstörungen und kognitive Defizite aufweisen. Hinzu kommt, dass die betroffenen Patienten einen lebenslangen intensiven Pflegebedarf haben, etwa durch die Folgen einer langen mechanischen Beatmung und/oder einer Tracheostomie. Für diese Situation hat sich in der Literatur der Begriff der „chronisch kritischen Krankheit“ (chronic critical illness, CCI) etabliert.[1] Da sie ohne die modernen (intensiv-)medizinischen Möglichkeiten nicht existieren würde, wird mitunter von einem iatrogenen Phänomen gesprochen.[2]

Physiologische und psychosoziale Belastungen durch CCI

Typische mit einer CCI einhergehende physiologische Belastungen sind respiratorische Probleme, metabolische Störungen, Infektionen, Neuromyopathien, kognitive Einschränkungen, Schmerz-, Angst- und Stresssymptome. Zweifellos können derartige Belastungen durch weitere therapeutische Interventionen gemindert werden, letztlich handelt es sich dabei aber vornehmlich um palliative Therapieziele.[2] Zu den physiologischen Belastungen kommen bei CCI die nicht weniger gewichtigen psychosozialen Hürden hinzu. In vielen Fällen fehlt eine ausreichend institutionalisierte Versorgungsstruktur. Chronisch kritisch kranke Patienten mit einem Tracheostoma laufen z.B. Gefahr, zwischen den Einrichtungen von Akutversorgung, Rehabilitation und Langzeitpflege auf der Strecke zu bleiben. Eine Betreuung zu Hause bedeutet für die Angehörigen wiederum erhebliche Einschnitte in ihre Lebensführung. Zudem ist mit allen Versorgungsmöglichkeiten immer das Risiko nicht hinreichend vom Sozialsystem abgedeckter finanzieller Belastungen verbunden.

CCI und Ethik

Der Umstand, dass CCI die Folge von klinischen Entscheidungen sind (und nicht bloß Schicksal), verlangt einen verantwortungsbewussten Umgang mit therapeutischen Interventionen, die eine kritische Krankheit chronifizieren. Für manche Beobachter liegt die moralisch einzig verantwortbare Entscheidung darin, auf alle Interventionen zu verzichten, die zu einer CCI führen. Letztlich begründet sich dieses Urteil damit, dass bestimmte Lebenszustände schlechter seien als der Tod. Mitunter werden hierfür individualethische Argumente (d.h. die Bewertung der Lebensqualität) mit sozialethischen Argumenten verbunden, welche auf die erhebliche (fi-nanzielle) Belastung von Familien und des Sozialsystems durch CCI hinwei-sen. Eine solche utilitaristische Argumentation führt andere Kommentatoren dazu, für eine sehr extensive moralische Behandlungspflicht bei CCI einzu-treten. Dieser Sichtweise zufolge dürfen Kosten-Nutzen-Überlegungen eine Therapieentscheidung bei CCI nicht determinieren. Das steht jedoch selbst in einem weitgehend öffentlich finanzierten Gesundheits- und Sozialsystem wie in Österreich in Spannung zur stets auch von Kosten-Nutzen-Überlegungen geprägten gesellschaftlichen Versorgungsplanung: wie oben angesprochen, fehlen nicht selten Angebote für eine gute Versorgung von CCI-Patienten nach dem Akutkrankenhaus-Aufenthalt.

Relevante Faktoren für die Entscheidungsfindung bei CCI

Abseits von derartigen sozialethischen Problemen, die in der Klinik de facto nicht veränderbar sind, stellt sich jedenfalls die Frage, welche Faktoren für eine ethisch verantwortungsbewusste Therapieentscheidung bei CCI zu beachten sind. Nelson et al.[4] haben jene Faktoren identifiziert, die Patienten, Angehörige und klinisch Tätige bei einer solchen Entscheidungsfindung für wichtig erachten:[3] (1.) Verständnis um die Zusammenhänge von aktueller Erkrankung und Behandlungsoptionen; (2.) Prognose hinsichtlich Unabhängigkeit von intensivmedizinischen Maßnahmen, Überleben, funktionaler Rehabilitation und Lebensqualität; (3.) Informationen zu den Belastungen, die mit der Behandlung der CCI einhergehen (z.B. laufendes Absaugen bei Tracheostoma); (4.) Komplikationen; (5.) zu erwartender Langzeitpflege-Bedarf und damit verbundene Kosten; (6.) Alternativen zur Fortsetzung der Intensivtherapie. Leider stellte sich auch heraus, dass mit einem beträchtlichen Teil der Patienten und Angehörigen über viele dieser Faktoren seitens der Kliniker nicht (ausreichend) gesprochen wurde. Bezeichnenderweise sprachen Ärzte noch am ehesten Umstände an, die sich aus der unmittelbaren Akutbehandlung ergeben, nicht aber solche, welche die längerfristige Perspektive oder die sozialpsychologischen Implikationen einer CCI im Blick hatten.

Hoffnung versus Realität

Behandlungsentscheidungen im Kontext von CCI sind – nicht zuletzt bei inadäquater Kommunikation – mit einer eklatanten Diskrepanz zwischen Hoffnung und Realität des Outcomes verbunden. So verstehen Patienten und Angehörige beispielsweise die Empfehlung einer Tracheostomie überwiegend als „positive Wende“, „Zeichen der Besserung“ und „erster Schritt in Richtung Rehabilitation“ nach einer Phase der maschinellen Beatmung mit Tubus.3 Der tatsächliche Outcome im Kontext der CCI ist jedoch sowohl hinsichtlich Mortalität wie Morbidität ernüchternd: Bei einer prospektiven Studie von Cox et al.[4] waren 1 Jahr nach Entscheidung zur Tracheostomie nur 56% der zuvor mittels Tubus maschinell beatmeten Patienten am Leben, wovon lediglich 9% einen guten funktionalen Status hatten. Sowohl Angehörige als auch Kliniker schätzten den Outcome signifikant höher ein.

Lazarus trifft Darwin

Der Eindruck, dass die moderne (Intensiv-)Medizin Patienten in einer akut lebensbedrohenden Krankheitsphase retten, ja, früher Todgeweihte wie Lazarus zum Leben erwecken könne, ist ambivalent zu beurteilen: In vielen Fällen ist das Resultat dieses Erfolges eine chronische kritische Krankheit. Auf diese Situation war der menschliche Organismus evolutionär (Stichwort „Darwin“[1]) nicht vorbereitet. Eine in diesem Kontext ethisch verantwortungsbewusste Entscheidung kann nicht pauschalierend schwarz oder weiß aussehen, aber sie muss jedenfalls jene Faktoren in die Entscheidungsfindung mit Patienten und Stellvertretern bzw. Angehörigen einfließen lassen, die eine längerfristige Abwägung von Nutzen (Wohltunsprinzip) und Belastungen (Nichtschadensprinzip) in den Blick nimmt und mit den Anforderungen der Fairness gegenüber Patienten und sozialem Umfeld (Gerechtigkeitsprinzip) abgleicht. Der institutionelle Ort hierfür sollte das multiprofessionelle Gespräch mit Patient oder Stellvertretern sein, welches im Rahmen einer ethischen Fallbesprechung stattfinden kann.

Referenzen

[1] Lamas D. Chronic Critical Illness. New Engl J Med. 2014;370(2):175-7.

[2] MacIntyre NR. Chronic Critical Illness: The Growing Challenge to Health Care. Respir Care. 2012;57(6):1021-7.

[3] Nelson JE et al. When critical illness becomes chronic: informational needs of patients and families. J Crit Care. 2005;20(1):79-89. • Nelson JE et al. Communication about chronic critical illness. Arch Intern Med. 2007;167(22):2509-15.

[4] Cox CE et al. Expectations and outcomes of prolonged mechanical ventilation. Crit Care Med. 2009;37(11):2888-94.