Straßenbahnfahren und ethische Methodologie


Die Wiener Linien haben kürzlich eine Durchsage in den Zügen und Bussen geändert. Hieß es früher „Überlassen Sie Ihren Sitzplatz anderen, wenn diese ihn notwendiger brauchen“, so lautet die Durchsage nun „Seien Sie achtsam: andere Fahrgäste benötigen Ihren Sitzplatz vielleicht notwendiger.“ Der Wechsel mag unbedeutend erscheinen, er stellt aber ethisch eine grundlegende methodische Änderung dar. Die alte Durchsage orientierte sich an einer gerechtigkeitsethischen Argumentation. In diesem Sinn konnte „Überlassen Sie Ihren Sitzplatz anderen,…“ als pflichtenethisch oder utilitaristisch begründeter Imperativ verstanden werden. Die moralische Aufforderung zielte direkt auf eine Handlung ab: Man habe demnach die Pflicht, den Sitzplatz jenen zu überlassen, die ihn notwendiger brauchen.

 

Die neue Durchsage arbeitet hingegen mit einem sorgeethischen Bezugsrahmen. Die Sorgeethik (Care-Ethik)[1] weist auf menschliche Haltungen hin, die für gute Beziehungen untereinander nötig sind. Dazu zählt die Haltung der Achtsamkeit: das aufmerksame Durch-die-Welt-gehen ist eine Voraussetzung dafür, anderen Menschen gerecht zu werden. Worin diese Gerechtigkeit besteht, ist nicht die primäre Frage der Sorgeethik, sondern muss gerechtigkeitsethisch reflektiert werden. Mit einer ausgeprägten sorgeethischen Achtsamkeit, so die Hoffnung, erkennt man, wo Engagement angezeigt ist, ohne dass konkrete moralische Imperative ausgegeben werden müssten. Die neue Durchsage der Wiener Linien arbeitet ebenso: „…andere Fahrgäste benötigen Ihren Sitzplatz vielleicht notwendiger“ ist eine Aussage, zu der man durch achtsame Beobachtung gelangt. Die Aufforderung, den eigenen Sitzplatz solchen Menschen zu überlassen, unterbleibt. Vielleicht kann man die Äußerungen von Papst Franziskus zur kirchlichen Morallehre ähnlich deuten: Statt eine Liste von moralischen Geboten und Verboten in Detailfragen zu erstellen, hat die kirchliche Verkündigung den Auftrag, eine Religion der „offenen Augen“[2], also eine achtsame Grundhaltung, zu fördern.

 

Die vorliegende Ausgabe des Newsletters thematisiert einige aktuelle Probleme, die durch detaillierte Normen selten gelöst, durch einen achtsamen Umgang mit den zahlreichen Grauschattierungen und Ermessensspielräumen vielleicht aber bewältigt werden können, etwa ethische Fragen in der Versorgung von Demenzkranken oder der Umgang mit Unsicherheit in der Prognose. Außerdem werden rezente Debatten zur Impfpflicht von Personal im Gesundheitswesen und zum Schutz von Patientendaten analysiert. In der bioethischen Debatte wird das Thema der prädiktiven Gentests durch ein neues Patent problematisiert. Grundlagenwissen wird zum in Alltags- und Fachgesprächen regelmäßig verwendeten Begriff „gut“ vermittelt.

Referenzen

[1] Conradi E. Take Care: Grundlagen einer Ethik der Achtsamkeit. Frankfurt am Main: Campus; 2001.

[2] Metz JB. Mystik der offenen Augen. Freiburg im Breisgau: Herder; 2011.